In meinem privaten Gmail-Konto befinden sich 28 029 E-Mails, im geschäftlichen Account sind es 37 188. Auf Google Fotos sind 13 625 Fotos gespeichert. Irgendwo liegt noch eine externe Festplatte mit knapp 40 000 mp3-Songs drauf. WhatsApp sagt mir, dass ich 1 855 Nachrichten gesendet und 3 495 empfangen habe – wobei ich diesen Werten nicht recht traue, vielleicht beziehen sie sich auf den Zeitraum, seit ich WhatsApp auf diesem Smartphone eingerichtet habe (also vor ein paar Monaten). Nun sind das gewiss keine allzu beeindruckenden Werte (meine Frau hat 67 177 Fotos), zeigt aber ein zunehmendes Phänomen: Wann haben wir das letzte Mal etwas gelöscht?
E-Mail ist lange nicht tot
Am 1. April 2004 brachte Google seinen E-Mail-Service «Gmail» auf den Markt und bot kostenlos 1 Gigabyte Speicher – eine kleine Revolution, denn andere Freemail-Angebote waren damals auf 20 oder 50 Megabyte beschränkt. Damit begann die Ära des Nicht-Löschens: Man musste fortan nicht mehr überlegen, welche E-Mails aufbewahrenswert sind und welche nicht.
Mein E-Mail-Verhalten hat sich dadurch drastisch geändert. Früher war ich der Ordner-Typ, der die E-Mails nach Projekten oder Themen sortierte. Wer begann, Gmail zu nutzen, kapitulierte irgendwann. Einerseits gab es die Ordnerfunktion bei Gmail nicht, wie man sie bis anhin kannte, anderseits benötigte man irgendwann mehr Zeit zum Sortieren als zum Lesen und Schreiben von Nachrichten.
Seit einigen Jahren häufen sich die Abgesänge auf die E-Mail: Durch Messenger-Angebote von Facebook, WhatsApp, Telegram im privaten Bereich und Business-Diensten wie Slack läuft viel Kommunikation auf anderen Kanälen. Dennoch, die E-Mail bleibt auf absehbare Zeit der Dreh- und Angelpunkt der digitalen Kommunikation: zur Eröffnung von Accounts, für das Zusenden elektronischer Bordkarten, für das Versenden von Dokumenten.
E-Mail ist längst nicht ausgereizt und bietet viel Optimierungspotenzial. Ich verstehe beispielsweise nicht, warum kein E-Mail-Client eine Suchfunktion bietet: «Zeig mir alle gesendeten E-Mails der letzten 14 Tage, auf die ich noch keine Antwort erhalten habe». Wäre perfekt für ein effizientes Nachhaken.
Aber das ist vielleicht etwas zu viel verlangt, solange sowieso noch nicht restlos alle das digitale Werkzeug richtig benutzen. Schliesslich gibt es es immer noch Mitmenschen, die die «Allen Antworten»-Funktion nicht verstehen und bei einer Anfrage an mehreren Personen nur dem Absender antworten. Kommunikationschaos garantiert. Es gibt auch immer noch die Spezialisten, die wortlos eine E-Mail weiterleiten, damit man sich selbst mühsam durch den Korrespondenzbaum hangeln darf, um eine Ahnung zu haben, worum es geht.
Kapitulation, dann KI
Zurück zum eigentlichen Problem: Wir löschen nichts mehr. Kaufen wir ein neues Smartphone, übertragen wir alle unseren WhatsApp-Nachrichten, die Kontakte, die Tausenden von Fotos auf das neue Gerät. Es ist natürlich lustig, hin und wieder in Chats von 2014 zu stöbern, aber denkt man fünf oder zehn Jahre in die Zukunft, fragt man sich, wohin dieses digitale Echtzeit-Tagebuch führen soll.
Bei den Fotos ist es etwas einfacher: Die meisten Smartphone-User nutzen ohnehin die Funktion für den automatischen Upload in die Cloud. Warum also sich nach einem Ausflug hinsetzen und die miesen Bilder löschen?
Ich habe letztens versucht, Ordnung in meine Google-Fotos zu bringen: schlechte raus, falsche Daten und Orte korrigieren etc. Keine Chance mehr. Das Positive: Von Hand Ordnung zu schaffen, wird immer weniger relevant, da die Suchfunktionen immer intelligenter werden: Bei Google Fotos kann man als Suchbegriff verwenden, was auf dem Bild zu sehen ist. So spuckt der Begriff «BMW» meine alte Karre aus Studenten-Zeiten aus. Klappt bei Apple übrigens auch. Möglich macht es eine künstliche Intelligenz (KI), die erkennt, was auf den Bildern zu sehen ist.
Die Nachteile
Führt man sich den stetigen Zuwachs an persönlichen digitalen Daten vor Augen, wird ein alter Bürokraten-Witz Realität: «Fräulein Meier, schmeissen Sie alle diese Dokumente weg – aber machen Sie zur Sicherheit vorher noch eine Kopie.» Doch wo sind die Nachteile des ungezügelten Daten-Wachstums?
Nachteil 1: Der Strom- verbrauch. Das Internet mit allen Diensten braucht weltweit so viel Strom, wie 25 Atomkraftwerke produzieren. Tendenz stark steigend, da der Bedarf an Rechenzentren durch Cloud- und Streaming-Angebote weiter zunehmen wird. Technologien wie die Blockchain und Kryptowährungen erhöhen den Strombedarf massiv.
Nachteil 2: Datenträger sind keineswegs für die Ewigkeit. Die meisten selbstgebrannten DVDs und CDs, USB-Speichersticks und SD-Karten haben eine Lebensdauer von kaum mehr als zehn Jahren.
Nachteil 3: Cloud-Dienste sind auch nicht zuverlässig. Einfach einmal «Microsoft Sidekick» googeln. Oder wer Google Plus lieb gewonnen hat (es soll tatsächlich einige geben) und es intensiv nutzte, wird bald alle Daten verlieren: Weil die Plattform kaum jemand nutzte und zuletzt ein Datenleck hatte, schaltet Google das Ding demnächst einfach ab. (db)