Matthias Horx gilt als einer der einflussreichsten Trend- und Zukunftsforscher des deutschsprachigen Raums und spricht am Digitaltag in Vaduz über sein neuestes Buch «Die Zukunft nach Corona». Im Interview gibt Horx Einblicke in seine Forschung und beschreibt, welche Auswirkungen die Pandemie auf die Menschen hat und noch haben könnte.
Herr Horx, am Digitaltag in Vaduz treten Sie als einer der Referenten auf und sprechen über Ihr neues Buch «Die Zeit nach Corona». In einem kurzen Satz: Wie sieht die Zeit nach der Pandemie aus?
Matthias Horx: Wir leben derzeit in dem, was der israelische Philosoph Gershom Sholem einmal «Die plastische Zeit» nannte. Alles verändert sich. Es wird unruhig, aber auch interessant.
Und nun etwas ausführlicher: Was hält die Zukunft für uns bereit?
Diese Frage führt in die falsche Richtung. Die Zukunft hält auch nichts für uns «bereit». Das hiesse ja, sie wäre schon festgelegt. Sie kann aber nur durch uns gestaltet werden. Das ist wichtig zu verstehen, weil wir sonst die Zukunft immer nur als Schicksal begreifen. Sie wirkt dann wie eine Mauer, auf die wir zurasen. Oder ein Zug, der aus dem Tunnel rast und pfeift, und wir können noch nicht einmal zur Seite springen, denn da ist nur die Tunnelwand. Zukunft entsteht aus dem Wandel, den wir als Individuen, Gesellschaften und Wirtschaft selbst verursachen. Es geht also vor allem darum, den Bewusstseinswandel zu verstehen, der durch die Krise entsteht.
Sie sagen, «Zukunft entsteht, wenn wir uns in der Reaktion auf den Wandel der Welt innerlich selbst verändern». Wie haben wir uns in den vergangenen Monaten verändert?
In einer Krise gibt es ja immer zwei grundsätzliche Möglichkeiten: Paranoia, also Hysterie, oder Metanoia, Selbstveränderung. Dann beginnt eine neue innere Ausrichtung. Die ist sehr individuell, es gibt also kein eindeutiges «wir». Zugleich werden unsere Lebensentwürfe aber infrage gestellt. Ich sehe durch Corona eine Tendenz zu einer verstärkten Beschäftigung mit Sinnfragen, zu einer Ausrichtung an postmateriellen Werten. Viele Menschen haben in der Coronazeit tiefe Erfahrungen mit sich selbst gemacht. Mit ihrem Leben, ihren Bedürfnissen, ihren Werten. Sie sind mit starken Ängsten konfrontiert worden, haben diese aber vielleicht auch überwunden. Das wahre Wesen der Krise ist ja der Neubeginn, nicht das Ende.
Ein Zurück zur alten «Normalität» wird es Ihrer Meinung nach nicht geben – die Zukunft wird sich neu entwickeln. Wo sehen Sie das Potenzial?
In einem neuen Denken, das zum Beispiel den Zusammenhang zwischen Ich und Wir, Gesellschaft, Wirtschaft und Individuum neu definiert. Zum Beispiel: Was ist eigentlich Freiheit, wenn sie nicht den Konsens gegenseitiger Fürsorge beinhaltet? Das beinhaltet auch eine Ausrichtung auf die Ökologie, auf unser Naturverhältnis. Das Virus erzählt uns ja auch eine Geschichte über unsere Stellung in der natürlichen Welt. Wir zahlen einen hohen Preis für die Überbeschleunigung und Überhitzung unserer Zivilisation. Einen zu hohen. Das ist überdeutlich geworden.
Die aktuelle Krise spaltet aber genau deshalb doch auch die Gesellschaft. Es gibt nicht wenige, die glauben, dass Corona kreiert wurde, um eine neue Weltordnung zu schaffen. Wie sehen Sie das?
Krisen führen immer dazu, dass verschiedene Wirklichkeitsdeutungen hochkochen, bis hin zum Wahn. Bei Epidemien ist das besonders stark. Denken wir einmal an die Pest-Zeit, an die Cholera-Epidemien im 19. Jahrhundert, an die Spanische Grippe. Das beförderte immer irrationale Reaktionen, Sekten, Gewaltakte, führte aber danach immer zu erstaunlichen Fortschrittsprozessen. Nach der Pest kam die Renaissance. Durch die Cholera entstanden Hygiene und neue Stadtarchitekturen. Die Spanische Grippe, die natürlich so wenig spanisch war wie Covid chinesisch, führte zu einem Modernisierungsschub vor allem in Amerika. Es ist vielleicht sehr menschlich, sich erst durch Krisen zum Wandel im Sinne eines integrativen Fortschritts zu bewegen.
Sind Krisen generell guter Nährboden für Verschwörungstheorien und alternative Fakten?
Immer. Viele Menschen halten ja das Schwierige an der Situation nicht aus. Sie fangen an, sich in Wut und Verleugnungen zu flüchten.
Einige Kanäle in den sozialen Medien erleben einen regelrechten Boom in dieser Zeit – eine andere Meinung zu haben gilt teilweise als reflektiert und informiert. Leidet die Glaubwürdigkeit von Wissenschaftlern, Forschern und Politikern in der Öffentlichkeit während der Krise?
Eher hat die Wissenschaft eine Renaissance erlebt. Im Grunde haben doch die Virologen gegen die Wirrologen gewonnen. Die Verschwörungsfanatiker sind zwar aggressiver und lautstarker und werden von den Medien echohaft massiv verstärkt. Aber das täuscht. Es handelt sich nur um eine kleine Gruppe, die in den meisten Gesellschaften – ausser vielleicht in den USA und Brasilien – sehr am Rand steht.
Auch die Digitalisierung erhielt während der Krise einen deutlichen Schub. Wird der Hunger nach neuen Technologien und digitalen Lösungen anhalten oder gemeinsam mit dem Virus abflachen?
Ich sehe einerseits eine aktive Zuwendung zu den Möglichkeiten des Digitalen, andererseits eher eine Ernüchterung, was die oft überschätzten Möglichkeiten des Digitialismus, also einer Verherrlichung und Ideologisierung des Digitalen, betrifft. Die Künstliche Intelligenz hat ja nicht unbedingt etwas in der Virusbekämpfung gebracht. Auch nicht Bitcoin und Quantenrechner. Viele Menschen haben in der Krise auch wieder das alte Analoge gesucht: langes Telefonieren, Bücher lesen, Beschäftigung mit Natur, Körper, Garten. Jeder massive Trend erzeugt einen Gegentrend und die wahre Zukunft besteht in einer Synthese. Wir nennen das, wohin es jetzt geht, auch das neue «Realdigital».
Was antworten Sie jemandem, der sagt, dass der schnelle technische Fortschritt nur dazu dient, die Menschheit besser überwachen zu können?
Dass die Erde eine Scheibe ist. Ich bin da ganz sicher. Im Ernst: Ohne Humor kommen wir in den Debatten über die Zukunft nicht aus. Alle eindimensionalen Theorien führen immer in die Blödsinnigkeit. Natürlich kann man mit digitalen Techniken Menschen überwachen. Man kann ja auch mit einem Hammer Menschen erschlagen, aber Hämmer wurden nicht unbedingt dazu erfunden. Das ist eine falsche Kausalität.
Durch Corona wurde die Digitalisierung und globale Vernetzung angetrieben. Gleichzeitig sprechen Sie von einer Besinnung auf sich selbst und seine Nächsten. Wie lässt sich das verbinden?
Wir sind in einer Krise, in der wir auseinanderrücken müssen, ja besonders existenziell auf unsere wirklichen Beziehungen angewiesen sind. Wir lernen durch die Praxis des Umgangs mit dem Digitalen auch besser, den digitalen Unsinn von den menschlichen Möglichkeiten zu trennen. Facebook und Twitter müssen zum ersten Mal reagieren und Google ist jetzt Gegenstand eines Monopolverfahrens. Da kippt etwas. Es wurde auch höchste Zeit – im Zuge der digitalen Veränderung sind ja auch jede Menge Hypes, Illusionen und Monströsitäten entstanden.
Wird die Krise die Menschen generell eher spalten oder näher zusammenbringen?
Das ist noch nicht endgültig entschieden, aber meine These ist, dass eine solche Krise erst Separationen und dann Vereinigungen erzeugt. Covid verstärkt in gespaltenen Gesellschaften die vorhandenen Spaltungen, wie in den USA. Sie bringt Gesellschaften näher zusammen, die sich ihrer Gemeinschaftlichkeit vergewissern und mit ihr gegen die Krise arbeiten. Dabei entstehen natürlich Reibungsflächen, sogar in der ach so kooperativen Schweiz, aber auch neue Beispiele der Bewältigung. Die Premierministerin Jacinda Ardern in Neuseeland hat zum Beispiel durch eine konsequente Inklusionspolitik mit viel Empathie die Wahlen in Neuseeland triumphal gewonnen. Die ärmeren Länder werden womöglich sogar schneller aus der Krise herauskommen – und danach vitaler wachsen. In den USA bringt Covid letzten Endes auch eine Schicksalsentscheidung mit sich – ob das Land auseinanderfällt oder sich neu erfindet.