Big Data ist der Schlüssel für erfolgreiche Geschäftsmodelle des kommenden Jahrzehnts. Doch mit der Anschaffung einer modernen Datenbank ist es nicht getan. Zukunftsforscher Michael Carl über die eigentliche Herausforderung hinter Big Data.
Machen Sie einmal den Test: Fragen Sie die ersten fünf Menschen, denen Sie morgen früh auf dem Weg zur Arbeit begegnen, warum alle jetzt eigentlich dieses «Big Data» brauchen und wohin diese Entwicklung führt. Was wie eine wahlweise arg- oder auch ahnungslose Frage klingt, wird Ihnen vor Augen führen, wie sehr auch erfahrene Fachleute immer wieder in der Gefahr stehen, Trends zu folgen, ohne die dahinter liegende Herausforderung tatsächlich zu durchdenken. Das macht Mühe und ist oft unbequem, aber im Fall von Big Data lohnt sich dieser Aufwand, insbesondere für den Mittelstand.
Wer nur die Namen und Emailadressen seiner potenziellen Kunden in einer Datenbank pflegt, koppelt sich von der Entwicklung ab. So wie die Zahl der Sensoren und Datenquellen exponentiell wächst, steigt die Zahl der Datenarten ebenso rasant. Doch eines ist ebenso sicher: Eine grosse Menge von Nullen und Einsen allein nützt wenig. Es braucht eine ebenso leistungsfähige Analytik, um die Daten auszuwerten. Doch auch diese gruppiert nicht allein Kunden nach gemeinsamen Merkmalen, um hinterher denselben Flyer an eine neue Gruppe von Empfängern zu schicken. Aber der Reihe nach.
IT alleine ist es nicht
Es ist ein ebenso naheliegendes wie verbreitetes Missverständnis: Digitalisierung beginnt nicht mit der Anschaffung neuer IT. Wer seinen Aussendienst mit iPads ausstattet, hat noch keinen Schritt zur Digitalisierung des Verkaufsteams getan. Wer Laptops in einer Schulklasse verteilt, hat noch keine digitale Bildung realisiert, genauso wenig wie eine Computerkasse allein Bezahlvorgänge digital macht. Die Herausforderung der Digitalisierung liegt auf einer anderen Ebene. Digitalisierung beginnt dort, wo Effekte messbar werden: Emotion, Begeisterung, aber auch der ganz praktische Nutzen für einen individuellen Kunden.
«Die DSGVO spiegelt nicht die Zukunft. Sie ist ein Reflex eines Denkens vergangener Tage.»
Ganz untechnisch formuliert: Digitalisierung erlaubt es Anbietern, in Echtzeit zu wissen, was ein Kunde benötigt und wie er das Produkt des Anbieters einsetzt.
Dies ist der Anfang. Schritt zwei baut darauf auf: Wer die Bedürfnisse und das Verhalten individueller Kunden in Echtzeit erkennen kann, wird lernen, diese auch zu prognostizieren. Schneller als Echtzeit ist der Anspruch, dem sich Anbieter unterschiedlichster Branchen in den kommenden Jahren werden stellen müssen. Auch dies ist allerdings nur ein vorbereitender Schritt, der hinführt zur Königsdisziplin der Digitalisierung: Die Adaptivität von Produkten. Denn wer würde einem Kunden Produkte von der Stange verkaufen wollen, wenn er die genauen Bedürfnisse von heute schon kennt und die wahrscheinlichen von morgen schon präzise beschreiben kann?
Oder, um es etwas härter zu formulieren: Wer würde ernsthaft annehmen, mit Durchschnittsprodukten noch wettbewerbsfähig sein zu können, wenn der Wettbewerber die künftigen Kundenbedürfnisse präzise adressieren kann? Dies ist die eigentliche Herausforderung der Digitalisierung: Die Produktentwicklung so zu flexibilisieren, dass die Produkte und Services die prognostizierten Bedürfnisse massenhaft individualisierter Kunden aufnehmen. Eine Entwicklung, die im Laufe der 20er-Jahre letztlich in jeder Branche zu beobachten sein wird. Damit rückt die Kommunikation mit dem Kunden an den Anfang der Produktentwicklung. Die traditionelle Abfolge Entwicklung – Produktion – Marketing – Vertrieb – Kundenservice kehrt sich um.
Anbieter werden in Zukunft immer nur so gut sein können, wie sie ihre Kunden kennen. Natürlich: Ein guter Verkäufer kennt seine Stammkunden, er ist mit ihnen vertraut. Jedenfalls, solange es 25 Kunden sind, oder vielleicht 50. Aber da wir hier von potenziell grössten Mengen von Kunden sprechen, ist dies nichts, das der klassische Verkäufer noch leisten könnte. Wer die individuellen Bedürfnisse von 500, 5000 oder 50 000 Individuen bedienen will, benötigt die Kraft des Algorithmus. Hier liegt der Grund, warum konkurrenzfähige Unternehmen der Zukunft ohne eine grosse Datenbasis und intelligente Wege, diese auszuwerten und zu interpretieren, schlicht nicht mehr vorstellbar sind.
Dieser Effekt, das belegt eine Studie des Leipziger Zukunftsforschungsinstituts «2b AHEAD ThinkTank», wird sich gerade im Mittelstand zeigen. Der Mittelstand, der seine Innovationsfähigkeit klassisch auf hoch spezialisierte Fachkompetenz, Entscheidungsfreude und Beweglichkeit gründet, wird hier seine Erneuerungsfähigkeit zeigen müssen und zeigen können. Das Hotel, das in Abhängigkeit von Emotion und Reiseplanung unterschiedliche Pakete für einzelne Reisende schnürt. Der Lebensmittelproduzent, der lernt, seine Produkte auf den genetischen Code einzelner Menschen abzustimmen. Der Pharmahersteller, dessen Produkte ihre Wirkkraft auf den wechselnden Gesundheitszustand einzelner Patienten abstimmen können. Der Maschinenbauer, dessen Anlagen nicht nur hoch spezifisch ausgelegt sind, sondern zugleich auch noch die Aufmerksamkeit der sie bedienenden Facharbeiter misst.
Erste Anfänge einer solchen Haltung sind im Mittelstand natürlich lange bekannt. Überall dort, wo im B2B-Geschäft Produkte als Einzelstücke oder in geringer Stückzahl hergestellt werden, wissen Entwicklung, Verkauf, Service genau, dass die Passung der Schlüssel ist. Unsere gemeinsame Lernerfahrung der kommenden Jahre wird sein: Dies werden wir auch im Massengeschäft sehen, B2B wie B2C. In den kommenden Jahren werden sich hier Maßstäbe verschieben. Je häufiger ich als Kunde erlebe, dass einzelne Anbieter in der Lage sind, meine Bedürfnisse zu erkennen und zu berücksichtigen, desto eher werde ich es vom nächsten Anbieter ebenfalls erwarten. Zunächst vom Wettbewerber, dann auch in anderen Branchen und Industrien.
Teilen statt zurückhalten
Bleibt eine Frage: Warum sollte ein potenzieller Kunde einwilligen, mit mir als Anbieter seine Daten umfassend zu teilen? Einfache Antwort: Wenn ich als Anbieter in der Lage bin, ihm zu beweisen, dass ich ihm damit einen ungeahnten Mehrwert stiften kann, wird der Kunde mir Stück für Stück mehr Zugriff auf seine Daten einräumen. Ein gemeinsamer Lernprozess, in dem Vertrauen wächst. Auch wenn das Jahr 2018 als das Jahr der maximalen Dateneinschränkung in die Wirtschaftsgeschichte eingehen wird, die DSGVO spiegelt nicht die Zukunft. Sie ist ein Reflex eines Denkens vergangener Tage. Die Zukunft gehört nicht der Unterdrückung von Kommunikation, sondern der Freiheit, Daten intelligent und transparent teilen zu können.
Zum Autor
Michael Carl ist Zukunftsforscher. Er ist Autor zahlreicher Studien und Veröffentlichungen und begeistert als Keynote-Speaker sein Publikum. Als Futurist in Residence forscht er bei Europas größtem unabhängigen Zukunftsforschungsinstitut, dem 2b AHEAD ThinkTank.