Die meisten Industrieunternehmen in der Ostschweiz und Liechtenstein nutzen die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung bereits, um ihre Produktionsprozesse zu optimieren. Mit dem revolutionären Aspekt der digitalen Transformation müssen sich die Betriebe jedoch erst noch auseinandersetzen: Der Entwicklung neuer, digitaler Geschäftsmodelle. Ein Beitrag aus dem aktuellen Geschäftsbericht von RhySearch.

In den meisten regionalen Industriebetrieben wurde das Schlagwort Digitalisierung längst mit Inhalt gefüllt. Wie eine Studie von RhySearch, der ETH Zürich und des Beratungsunternehmens Epiphany AG aufzeigt, haben in den Unternehmen viele der neuen technologischen Möglichkeiten bereits Einzug gehalten. Die digitalen Initiativen beschränkten sich allerdings meist auf die Optimierung der Produktionsprozesse – das Endprodukt ist nach wie vor das selbe. „Bei den herstellenden Firmen steht die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle erst noch bevor“, stellt Studienleiter Marcus Zimmer, Senior Researcher an der ETH Zürich, fest. Mit dem eigentlichen revolutionären Aspekt der Digitalisierung, die gänzlich neue, mitunter disruptive Geschäftsmodelle ermöglicht, müssten sich die regionalen Unternehmen nun dringend auseinandersetzen.

Kundenbedürfnisse im Vordergrund

Anne Scherer vom Institut für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Zürich und Projektleiterin für Digitale Transformation bei Epiphany AG versucht sich der Frage anzunähern, wie ein solches Geschäftsmodell für einen Industriebetrieb in der Praxis aussehen könnte. „Es gibt meiner Ansicht nach nicht ein Geschäftsmodell, das für alle Unternehmen gleich gut ist. Vielmehr ist die Frage nach dem richtigen Geschäftsmodell eine Frage nach den individuellen Wünschen und Bedürfnissen der Kunden und wie man diesen mit neuen digitalen Technologien besser gerecht werden kann.“ Scherer rät daher: Unternehmen sollten auf der Suche nach dem grossen Wurf immer erst bei den individuellen Kundenbedürfnissen beginnen und nicht mit einer konkreten Technologie, die eingesetzt werden soll. Marcus Zimmer gibt zu bedenken, dass sich die Wertschöpfung zunehmend von der reinen Produktion hin zu Dienstleistungen verschiebt. „Auch zählt Retrofit, also die Nachrüstung von Maschinen, üblicherweise zum Servicegeschäft.“ Zimmer sieht angesichts der Digitalisierung gerade in produktbegleitenden und -ergänzenden Dienstleistungen grosse Chancen für die regionale Industrie: Mit Hilfe von Sensor- und Nutzungsdaten lassen sich Maschinen über den gesamten Lebenszyklus hinweg managen und optimieren. Auch können sie nach dem Verkauf besser an sich ändernde Kundenwünsche angepasst und in ihrer Effizienz gesteigert werden – etwa durch die Erhöhung der Verfügbarkeit durch „predictive maintenance“. Als Vorbild könnte laut Zimmer der Bautechnologiekonzern Hilti dienen. „Das Hilti Flotten- und Gerätemanagement ist ein schönes Beispiel für eine produktbegleitende Dienstleistung, die dem Kunden stets das für ihn passende Equipment bereitstellt und den Aufwand für Wartung und Instandsetzung minimiert.“

Sich ständig neu erfinden

Grundsätzlich rät Anne Scherer Unternehmen dazu, die digitale Transformation nicht als Einmalaufgabe, sondern als einen fortlaufenden Prozess des Überarbeitens und neu Erfindens zu begreifen. „Gefährlich finde ich jedoch den Gedanken, dass dies nicht schnell oder radikal geschehen müsse.“ Als Beispiel, wie gefährlich es ist in inkrementellen Schritten zu denken, zeige die Geschichte von Kodak. Der einstmals international bedeutende Hersteller fotografischer Ausrüstung hat den Sprung in die digitale Welt zwar früh gewagt, dabei jedoch verkannt, welche neuen Geschäftsmodelle die digitalen Technologien ermöglichen. „Kodak hat in zu kleinen Schritten gedacht und lediglich versucht Bestehendes zu digitalisieren“, sagt Scherer. Während ein Gigant wie Kodak in die Insolvenz schlitterte, baute der Online-Dienst Instagram mit einer Handvoll Mitarbeitenden ein wahres Imperium auf. „Dies zeigt wie wichtig es ist, beim Thema Digitalisierung durchaus radikal neue Wege zu gehen. Denn wenn man sie selbst nicht geht, wird es früher oder später jemand anderes tun“, so Scherer.

An einem Strang ziehen

Gerade in Unternehmen mit einer langen Tradition ist es kein Leichtes, sich von alten Strukturen und Denkweisen zu lösen und ein Geschäft völlig neu zu denken. Marcus Zimmer sagt: „In vielen Fällen wird es sinnvoller sein, eine ‚digitale Spielwiese‘ in einer eigenen, flexibleren Organisationseinheit aufzubauen, mit eigener finanziellen Ausstattung, neuen Mitarbeitern, grösserem Entscheidungsspielraum und flachen Hierarchien – möglicherweise sogar unter neuem Namen, um die bestehende Marke nicht zu gefährden“. Gleichzeitig sollte sich die Geschäftsführung aber fragen, welche Signale sie damit in die bestehende Organisation sendet: Sind die „Digitalen“ jetzt die Zukunft und hat man den Rest bereits abgeschrieben? Auch haben die wenigsten KMU die notwendigen Ressourcen zur freien Verfügung, ohne dass die entsprechenden Budgets in der Mutterorganisation gekürzt werden müssen – was entsprechende Widerstände und Ängste auslösen kann. Und letztendlich stellt sich auch die Frage: Was passiert im Erfolgsfall? Lassen sich dann die neuen digitalen Geschäftsprozesse wieder in die Ursprungsorganisation reintegrieren? Anne Scherer ist daher überzeugt, dass es für den langfristigen Erfolg des gesamten Unternehmens nötig ist, beim Thema Digitalisierung an einem Strang zu ziehen. „Zentrale Hürde wird dabei die Unternehmenskultur sein“, sagt sie. Kundenorientierung und ein „Test & Learn Mindset“ müsse von allen Mitarbeitern und auf allen Ebenen gelebt werden. Dabei müssten auch neue und junge Mitarbeiter, die oft die kreativsten Ideen und Perspektiven einbringen, gehört werden.

Als Forschungs- und Innovationszentrum will RhySearch die Lücke schliessen und für Unternehmen auf der Suche nach neuen, digitalen Geschäftsmodellen eine unterstützende Rolle einnehmen. So ist es laut Geschäftsführer Richard Quaderer denkbar, dass in Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern Räume für regionale KMU geschaffen werden, in denen digitale Experimente fernab des Arbeitsalltags durchgeführt werden können. Mehr Informationen entnehmen Sie dem RhySearch Geschäftsbericht.


Kurzportraits:

Dr. Marcus Zimmer ist Senior Researcher an der ETH Zürich. Er konzentriert sich bei seiner Forschungsarbeit vor allem auf Käufer-Verkäufer-Beziehungen bei komplexen Angeboten wie Geschäftslösungen in B2B-Märkten und das Zusammenspiel von Marketingstrategien in Unternehmen sowie Kundenpräferenzen und -verhalten im Umfeld von High-Tech-Produkten. Zimmer leitete die Studie von RhySearch, der ETH Zürich und des Beratungsunternehmens Epiphany AG zur Digitalisierung fertigender Betriebe in der Ostschweiz und in Liechtenstein.

Prof. Dr. Anne Scherer ist Assistenzprofessorin für quantitatives Marketing am Institut für Betriebswirtschaftslehre der Universität Zürich und Projektleiterin für Digitale Transformation bei der Epiphany AG. In ihrer Forschung untersucht sie die Digitalisierung und Automatisierung von Kundenkontaktpunkten. Vor ihrer Tätigkeit an der UZH war sie Post-Doc am Lehrstuhl für Technologiemarketing an der ETH Zürich und Doktorandin an der Technischen Universität München. (digital Liechtenstein)

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